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"Tagesform" - Sibylle Berg über plötzliche Alterser-
scheinungen und ein Zimmer mit Meersicht.

Es war eben so passiert. Meine Güte, solche Dinge passieren halt, und am Ende sagt man Leben dazu. Nichts Besonderes. Kein Grund, sich aufzuregen. Alles wird alt: Bäume, Tiere, Insekten, Häuser, Autos, alle Dinge auf der Welt werden alt, die Welt wird auch alt, und dann sterben die Dinge, wechseln die Beschaffenheit, werden Staub oder Moder, werden Fleisch, und Knochen zerfallen in Atome, die sich wieder finden zu etwas anderem.

Vielleicht, denkt die Dame am Fenster, vielleicht werde ich bald ein Computer. Wär doch was. Aber die Vorstellung gefällt ihr nicht, denn noch sind die Atome in Form, wenn auch in schlechter.

Vor kurzem war sie in prächtiger Form. Sie war vierzig oder älter, fühlte sich wie immer, die Form war fest, und sie verstand nicht, warum Leute «Sie» zu ihr sagten. Vor kurzem erst hatte sie mit ihren Freundinnen in einer WG neben einem Altersheim gewohnt. Wenn sie mit der kleinen Bahn zu ihrem Haus gefahren war, sassen immer alte Frauen darin. Alte Männer nie. Sie schaute in die Gesichter der alten Frauen, und es war gut zu erkennen, wie sie als junge Mädchen ausgesehen hatten.

Alte Frauen. Immer allein. Und sie hatte sich vorstellen können, wie es sein müsste, das Altsein. In so einem fremden Körper, der von niemandem mehr berührt und beachtet wäre. Den man zu Bett legte und wieder aus dem Bett nähme, gänzlich ohne Bestimmung. Und manchmal wurde ihr ganz übel vor Angst, das könnte ihr einmal passieren. Dann ging sie aus der Bahn in ihre WG und lachte mit den Freundinnen und wusste, dazu würde es nie kommen. Bis sie so alt wäre, hätte man ein Mittel gegen das Altern erfunden.

Das war gestern gewesen oder vorgestern, das Mittel hatte keiner entdeckt, und nun stand sie am Fenster in einem Altenheim. Zu mehr hatte es eben doch nicht gereicht, obwohl sie immer gedacht hatte, nie würde sie in so ein Heim gehen. Sie hatte auch gedacht, sie wäre bestimmt nicht allein im Alter, es würde schon noch eine grosse Liebe kommen.

Die Freunde waren tot. Wie das passiert war, daran mochte sie sich nicht erinnern. Die grosse Liebe war nie gekommen. Über Nacht hatten alle Männer ihres Alters junge Stewardessen als Freundin und erzählten, dass die Mädchen echt weit für ihr Alter seien und sie sich ja nicht hatten aussuchen können, wo die Liebe hinfiele. Und dann war sie irgendwann immer hingefallen, konnte nicht mehr arbeiten, und nun stand sie hier, am Fenster in diesem Heim. Sie hatte ein kleines Zimmer, eine kleine Kochnische, und zum Einkaufen fuhr sie mit der kleinen Bahn, und manchmal stellte sie sich vor, sie wäre jung und würde Alte dasitzen sehen.

Und nun war Frühling. Die Dame sah die Kochnische an, sie schüttelte den Kopf, sie sah die Saftpresse, die Mikrowelle, wie die Dinge so funktionslos und abgestaubt darauf warteten, Erbmasse zu werden, und sie begann zu lachen. Ich muss doch verrückt sein, lachte sie, bis ihr Tränen über die Wangen liefen. Ich werde doch nicht als gottverdammter Computer enden, an dem picklige Jungs Tiersexseiten anschauen.

Sie packte eine leichte Reisetasche, ging damit aus dem Haus, hob ihr Geld vom Konto und fuhr nach Italien. Sie mietete ein Zimmer im teuersten Hotel direkt am Meer, in das sie nackt lief, mitten in der Nacht. Der Mond stand am Himmel und lächelte ihr zu. Sie schwamm ins Meer, das rund war, wie die Erde und lachte immer noch. Nichts passiert einfach so, dachte sie, als sie im fleisch-warmen Sand sass, in Italien, in der Nacht im Frühling.


Sibylle Berg lebt in Zürich. Ihr Roman, «Amerika», ist bei Hoffmann & Campe erschienen.